Oppositionelles Verhalten bei Kindern: Was ist normal – und was nicht?

Viele Eltern kennen Situationen, in denen sie an ihre Grenzen stoßen: Das eigene Kind schreit, widerspricht, weigert sich mitzumachen oder reagiert auf jede Bitte mit einem demonstrativen „Nein!“. Was zunächst wie ein gewöhnlicher Trotzmoment wirkt, kann sich über Wochen oder Monate hinweg zu einem Dauerzustand entwickeln – begleitet von Machtkämpfen, Diskussionen und ständiger Anspannung. Kein Wunder, dass sich Mütter und Väter in solchen Phasen fragen, ob dieses Verhalten noch im Rahmen der normalen Entwicklung liegt oder bereits auf tieferliegende Schwierigkeiten hindeutet.
Tatsächlich gehört oppositionelles Verhalten in bestimmten Altersphasen zur kindlichen Entwicklung dazu. Kinder entdecken ihren eigenen Willen, wollen Grenzen austesten und lernen dabei soziale Regeln und emotionale Selbststeuerung. Dennoch gibt es Fälle, in denen das Ausmaß, die Häufigkeit oder der Kontext des Verhaltens auf eine behandlungsbedürftige Problematik hinweisen. Gerade weil sich typische Trotzphasen und beginnende Störungen im Verhalten auf den ersten Blick ähneln können, ist es wichtig, genau hinzuschauen.
Dieser Artikel möchten Orientierung geben: Was ist bei Kindern ein normaler Ausdruck von Entwicklung – und wann sollten Eltern genauer hinschauen oder sich Unterstützung holen? Dabei geht es nicht um schnelle Diagnosen, sondern um ein besseres Verständnis für das Verhalten Ihres Kindes und darum, wie Sie ihm (und sich selbst) im Alltag helfen können.
Was genau ist oppositionelles Verhalten?
Oppositionelles Verhalten beschreibt ein wiederkehrendes Muster von Trotz, Widerspruch und aktiver Verweigerung gegenüber Regeln, Erwartungen oder Anweisungen durch Erwachsene. Kinder mit oppositionellem Verhalten reagieren häufig mit Widerstand, diskutieren intensiv, ignorieren bewusst Bitten oder provozieren gezielt. Dabei geht es nicht um gelegentliche Ungehorsamkeit – die ist völlig normal –, sondern um ein Verhalten, das sich regelmäßig, oft in verschiedenen Situationen und mit zunehmender Intensität zeigt. Auffällig ist auch, dass solche Kinder häufig sehr empfindlich auf Frustration reagieren und in Konflikten schnell eskalieren, ohne sich leicht beruhigen zu lassen.
Wichtig ist: Oppositionelles Verhalten ist kein eindeutiger Hinweis auf eine psychische Störung – und erst recht kein „böswilliges“ Verhalten. Vielmehr handelt es sich um ein Kommunikationsmuster, das je nach Entwicklungsphase, Temperament und Beziehungserfahrungen des Kindes sehr unterschiedlich aussehen kann. Viele Kinder nutzen oppositionelles Verhalten, um Autonomie zu zeigen, Aufmerksamkeit zu bekommen oder um auf innere Überforderung hinzuweisen. Entscheidend ist daher immer der Kontext, in dem das Verhalten auftritt – und wie Eltern und andere Bezugspersonen darauf reagieren.
Entwicklungsbedingter Trotz: Das gehört zur Kindheit dazu
Trotz, Widerstand und das Austesten von Grenzen sind feste Bestandteile der kindlichen Entwicklung. Sie treten nicht zufällig auf, sondern folgen bestimmten Reifungsschritten – insbesondere in Phasen, in denen Kinder beginnen, ein eigenes Selbstbild und eine Vorstellung von Autonomie zu entwickeln. In diesen sogenannten „Trotzphasen“ versuchen Kinder, mehr Kontrolle über ihr Handeln zu gewinnen. Sie erleben sich als eigenständige Personen mit einem eigenen Willen – und genau diesen möchten sie auch durchsetzen.
In der Autonomiephase zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr ist oppositionelles Verhalten besonders häufig zu beobachten. Ein „Nein!“ aus elterlichem Mund führt hier oft zu einem ebenso entschiedenen „Doch!“ vom Kind. Das gehört dazu: Kinder in diesem Alter begreifen gerade erst, dass sie von ihren Bezugspersonen getrennte Wesen sind, und müssen ihre Selbstwirksamkeit im Alltag testen. Wutanfälle, Verweigerung oder heftige Reaktionen auf Einschränkungen sind also keine Fehlentwicklungen, sondern Ausdruck innerer Entwicklungsschritte.
Auch im Vorschul- und Grundschulalter bleibt oppositionelles Verhalten ein Thema – allerdings verändert sich seine Form. Kinder beginnen, Regeln zu hinterfragen, zu verhandeln und ihre Meinung energischer zu vertreten. Sie testen aus, wie konsequent Erwachsene wirklich sind und wie viel Gestaltungsspielraum sie bekommen können. Diese Auseinandersetzungen sind wichtige Lernfelder für soziale Kompetenzen, emotionale Regulation und die Fähigkeit, mit Frustration umzugehen.
Wichtig ist: Nur weil ein Kind regelmäßig widerspricht, sich verweigert oder aufbrausend reagiert, bedeutet das noch lange nicht, dass etwas „falsch läuft“. In vielen Fällen zeigt sich hier einfach ein gesunder, entwicklungsbedingter Reifungsprozess – der zwar anstrengend sein kann, aber gleichzeitig wichtige Fähigkeiten fördert, die Kinder für ihr späteres Leben dringend brauchen.
Wann wird oppositionelles Verhalten auffällig?
So normal Trotz und Widerstand in bestimmten Entwicklungsphasen auch sind – es gibt Situationen, in denen das Verhalten eines Kindes den Rahmen dessen sprengt, was altersentsprechend und entwicklungsbedingt ist. Entscheidend ist dabei nicht ein einzelner Ausbruch oder ein gelegentliches „Nein“, sondern ein überdauerndes Muster: Wenn oppositionelles Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg auftritt, in seiner Intensität zunimmt und zunehmend das Familienleben, den Schulalltag oder das soziale Umfeld belastet, kann dies ein Hinweis auf tieferliegende Schwierigkeiten sein.
Ein Warnsignal ist etwa, wenn Konflikte nicht nur gelegentlich, sondern täglich oder sogar mehrmals täglich auftreten – und das auch bei scheinbar kleinen Anlässen. Kinder, die sich kaum mehr kooperationsbereit zeigen, sich nicht beruhigen lassen und regelmäßig in Machtkämpfe verwickelt sind, überfordern auf Dauer nicht nur ihre Bezugspersonen, sondern geraten auch selbst in emotionale Not. Besonders auffällig ist es, wenn das oppositionelle Verhalten nicht nur zu Hause, sondern auch im Kindergarten, in der Schule oder bei anderen Bezugspersonen gezeigt wird. Dann ist das Verhalten kein Ausdruck einer spezifischen Beziehungskonstellation mehr, sondern ein übergreifendes Muster.
Auch das emotionale Erleben spielt eine wichtige Rolle: Kinder, die ständig wütend sind, schnell aus der Haut fahren und kaum Frustrationstoleranz zeigen, leiden häufig selbst unter ihrem Verhalten. Sie fühlen sich unverstanden, abgelehnt oder dauerhaft angespannt – was wiederum zu einem Teufelskreis aus weiterer Verweigerung und noch mehr Konflikten führen kann.
Ein weiteres Kriterium ist die Auswirkung auf das Familienleben: Fühlen sich Eltern dauerhaft erschöpft, hilflos oder zunehmend ohnmächtig? Ziehen sich Geschwisterkinder zurück? Werden gemeinsame Aktivitäten vermieden, um Eskalationen vorzubeugen? Wenn das Familienklima spürbar unter dem Verhalten leidet, ist es Zeit, genau hinzuschauen – nicht aus Sorge um Schuld, sondern im Sinne von Entlastung und Unterstützung.
Was ist eine oppositionelle Störung des Sozialverhaltens (ODD)?
Wenn oppositionelles Verhalten über das hinausgeht, was altersgemäß und entwicklungsbedingt ist, kann es sich um eine sogenannte oppositionelle Störung des Sozialverhaltens handeln. Diese Störung – international oft mit der Abkürzung ODD für „Oppositional Defiant Disorder“ bezeichnet – gehört zu den häufigeren psychischen Auffälligkeiten im Kindesalter. Sie ist in der ICD-11 (Internationalen Klassifikation der Krankheiten) als eigenständige Diagnose beschrieben und zeichnet sich durch ein anhaltendes Muster von trotzigem, streitlustigem und herausforderndem Verhalten gegenüber Autoritätspersonen aus.
Im Unterschied zum normalen Trotzverhalten, das meist phasenhaft auftritt und mit der Zeit wieder abklingt, ist ODD durch eine anhaltende und intensive Form von Opposition gekennzeichnet. Kinder mit dieser Störung zeigen über mindestens sechs Monate hinweg ein wiederkehrendes Muster aus:
- häufigem Streiten mit Erwachsenen,
- aktivem Widerstand gegen Regeln oder Aufforderungen,
- gezieltem Ärgern oder Provozieren anderer,
- Ablehnung von Verantwortung („Die anderen sind schuld!“),
- Reizbarkeit, Jähzorn oder überzogenen Wutreaktionen.
Typisch ist auch, dass diese Verhaltensweisen nicht nur in einer Umgebung, sondern in verschiedenen Lebensbereichen auftreten – also etwa zu Hause, in der Schule und im sozialen Umfeld. Die Konflikte sind nicht mehr vereinzelte Reaktionen auf Überforderung oder Missverständnisse, sondern Teil eines festgefahrenen Musters, das sowohl für das Kind als auch für die Bezugspersonen sehr belastend ist.
Wichtig ist: Eine oppositionelle Störung ist keine Charaktereigenschaft und bedeutet auch nicht, dass ein Kind „schlecht erzogen“ oder „absichtlich schwierig“ ist. Vielmehr liegt eine ernstzunehmende emotionale und soziale Entwicklungsstörung vor, die das Kind in seiner Selbstregulation, Beziehungsfähigkeit und Konfliktlösung beeinträchtigt. Häufig tritt ODD auch in Verbindung mit anderen Störungen auf, zum Beispiel mit ADHS, Angststörungen oder depressiven Symptomen. Deshalb ist eine sorgfältige fachliche Diagnostik wichtig, um die richtige Unterstützung zu finden.
Je früher diese Muster erkannt und gezielt angegangen werden, desto besser sind die Entwicklungschancen des Kindes – und desto eher kann sich auch die belastete Familiensituation entspannen.
Ursachen – Warum entwickeln manche Kinder oppositionelles Verhalten?
Oppositionelles Verhalten entsteht nie aus dem Nichts. Vielmehr ist es das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren: kindliche Eigenschaften, familiäre Dynamiken, soziale Erfahrungen und manchmal auch biologische Grundlagen tragen gemeinsam dazu bei, ob und in welcher Form oppositionelles Verhalten auftritt – und ob es sich im weiteren Verlauf verstärkt oder wieder abbaut.
Ein wichtiger Risikofaktor liegt im Temperament des Kindes. Manche Kinder kommen mit einer ausgeprägten Reizoffenheit, geringer Frustrationstoleranz oder starker Impulsivität auf die Welt. Diese Kinder reagieren intensiver auf äußere Reize, haben Schwierigkeiten, sich selbst zu beruhigen, und geraten schneller in Konflikte – ohne dass dies schon ein Hinweis auf eine Störung wäre. Wenn ein solches Temperament auf einen wenig strukturierten oder stark wechselhaften Erziehungsstil trifft, können sich oppositionelle Verhaltensmuster jedoch verfestigen.
Auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung spielt eine zentrale Rolle. Kinder, die sich emotional nicht ausreichend gesehen, verstanden oder sicher gebunden fühlen, entwickeln häufiger oppositionelle Reaktionen – oft als unbewusste Strategie, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder Kontrolle über belastende Situationen zu gewinnen. Umgekehrt erleben Eltern, die selbst hohem Stress ausgesetzt sind (z. B. durch psychische Belastungen, Partnerschaftskonflikte oder berufliche Überlastung), häufig Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung. Es entsteht ein Kreislauf: Das Kind zeigt schwieriges Verhalten, die elterliche Reaktion fällt zunehmend angespannt aus – und das Verhalten verstärkt sich weiter.
Ein weiterer Einflussfaktor sind frühkindliche Belastungen oder ungünstige Lebenserfahrungen. Dazu gehören etwa Vernachlässigung, instabile Betreuungssituationen, Trennungserlebnisse oder dauerhafte Überforderungen im sozialen Umfeld. Auch Erfahrungen von Überkontrolle oder zu wenig verlässlicher Orientierung können Kinder dazu bringen, in Widerstand zu gehen – oft, weil sie sich so ein Stück Eigenständigkeit oder emotionaler Sicherheit „zurückholen“ wollen.
Nicht zuletzt können auch neurobiologische oder genetische Faktoren eine Rolle spielen. Studien zeigen, dass bei manchen Kindern eine genetische Veranlagung zu impulsivem oder herausforderndem Verhalten besteht. Ebenso können neuropsychologische Besonderheiten – etwa in der Emotionsregulation oder der Wahrnehmungsverarbeitung – oppositionelles Verhalten begünstigen. Gerade bei komorbiden Störungen wie ADHS ist die Reizanfälligkeit hoch, und Konflikte entstehen schnell – häufig ohne dass das Kind sie beabsichtigt.
Insgesamt lässt sich festhalten: Oppositionelles Verhalten ist selten das Ergebnis eines einzigen Auslösers. Es entsteht aus einer Vielzahl von Bedingungen – und ebenso vielfältig müssen auch die Wege sein, um damit umzugehen.
Was Eltern tun können – Strategien im Alltag
Eltern von oppositionellen Kindern stehen oft unter enormem Druck: Jeder Tag kann neue Auseinandersetzungen mit sich bringen, und gut gemeinte Erziehungsversuche laufen ins Leere oder führen sogar zu neuen Konflikten. Umso wichtiger ist es, alltagstaugliche Strategien zu entwickeln, die nicht nur kurzfristig für Ruhe sorgen, sondern langfristig die Beziehung zum Kind stärken und Verhaltensänderungen ermöglichen.
Ein zentraler Grundsatz lautet: Klare Strukturen und verlässliche Regeln schaffen Sicherheit. Kinder mit oppositionellem Verhalten brauchen Orientierung – gerade weil sie innerlich oft weniger stabil sind, als es nach außen scheint. Ein klarer Tagesablauf, verständlich formulierte Regeln und vorhersehbare Konsequenzen helfen, den Alltag zu entlasten. Wichtig ist dabei: Wenige, aber gut gewählte Regeln sind hilfreicher als ein komplexes Regelwerk. Und: Konsequenzen sollten vorhersehbar, ruhig kommuniziert und ohne Drohungen durchgesetzt werden.
Ebenso bedeutsam ist eine konsequent-wertschätzende Haltung. Das bedeutet: Eltern bleiben klar in ihren Ansagen – ohne laut zu werden oder in Machtkämpfe zu verfallen. Statt auf jede Provokation einzugehen, kann es hilfreich sein, bewusst aus der Eskalationsspirale auszusteigen und dem Kind gleichzeitig zu signalisieren: „Ich sehe, dass du gerade wütend bist – aber ich bin trotzdem da.“ Solch eine Haltung schützt die Beziehung und bietet dem Kind die Chance, sich zu regulieren.
Positive Aufmerksamkeit für angemessenes Verhalten ist ein weiterer wichtiger Baustein. Kinder, die sich meist über Widerstand definieren, erfahren oft viel Aufmerksamkeit für „schlechtes“ Verhalten – aber wenig Rückmeldung, wenn sie sich kooperativ verhalten. Eltern können bewusst darauf achten, kleine Fortschritte oder gelungene Situationen zu würdigen: „Ich habe gesehen, dass du heute sofort deine Jacke angezogen hast – das war super!“ Solche Rückmeldungen fördern Motivation und Selbstwertgefühl.
Hilfreich ist auch, sich in schwierigen Momenten in das Kind hineinzuversetzen. Was will es gerade wirklich? Geht es ihm um Kontrolle, um Kontakt oder um Schutz? Oppositionelles Verhalten ist oft ein Ausdruck innerer Not – und je besser Eltern dies verstehen, desto leichter fällt es, angemessen zu reagieren, ohne sich provozieren zu lassen.
Nicht zuletzt sollten Eltern für sich selbst sorgen. Wer dauerhaft erschöpft ist, kann schwer Grenzen setzen oder liebevoll reagieren. Pausen, Austausch mit anderen Eltern, ggf. auch therapeutische Unterstützung können helfen, die eigene Kraft zu bewahren und neue Perspektiven zu gewinnen. Denn: Nur stabile Eltern können Kindern Halt geben.
Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist
Oppositionelles Verhalten ist für viele Familien eine große Herausforderung. Es verlangt viel Geduld, Reflexion und Energie – und trotz aller Bemühungen erleben Eltern manchmal, dass sie alleine nicht weiterkommen. In solchen Fällen kann es sehr entlastend sein, sich frühzeitig professionelle Unterstützung zu holen. Nicht, weil man „versagt“ hätte, sondern weil manche Situationen einfach zu komplex oder belastend sind, um sie allein zu bewältigen.
Ein erstes Warnsignal kann sein, wenn das Verhalten des Kindes den Familienalltag dauerhaft dominiert: Wenn Konflikte überhandnehmen, alltägliche Routinen kaum noch gelingen, Geschwisterkinder in Mitleidenschaft gezogen werden oder sich die Stimmung zu Hause über längere Zeit als angespannt, gereizt oder kraftlos erlebt wird. Auch anhaltende emotionale Überforderung der Eltern, häufige Ohnmachtsgefühle oder das Gefühl, ständig „im Kampfmodus“ zu sein, sind ernstzunehmende Zeichen.
Ein weiteres Kriterium ist das Verhalten des Kindes in anderen Lebensbereichen: Zeigt es auch im Kindergarten oder in der Schule auffälligen Widerstand, verweigert sich konsequent oder gerät immer wieder in Konflikte mit Gleichaltrigen oder pädagogischen Fachkräften? Dann ist es wichtig, das Verhalten umfassender einzuordnen – nicht nur aus elterlicher Perspektive, sondern im fachlichen Kontext.
Auch wenn das oppositionelle Verhalten von weiteren Symptomen begleitet wird – etwa häufigen Stimmungsschwankungen, ausgeprägter Impulsivität, starken Ängsten oder Konzentrationsproblemen –, ist eine psychologische oder kinderpsychiatrische Abklärung sinnvoll. Oft zeigen sich bei genauerer Betrachtung weitere seelische Belastungen oder begleitende Störungsbilder wie beispielsweise ADHS.
Die gute Nachricht: Es gibt bewährte Hilfsangebote, die Familien spürbar entlasten können. Dazu gehören zum Beispiel:
- Erziehungsberatungsstellen, die niederschwellig Unterstützung anbieten, ohne dass eine Diagnose vorliegen muss.
- Kinder- und Jugendpsychiater:innen und -therapeut:innen, die individuell auf das Kind und seine Familiensituation eingehen.
- Elterntrainings, etwa nach dem Triple-P- oder dem „Starke Eltern – Starke Kinder“-Modell, die konkrete Strategien vermitteln.
- Unterstützung durch das Jugendamt, mit dem Ziel gemeinsam mit den Eltern Wege zu finden, wie der Familienalltag entlastet und das Verhalten des Kindes besser verstanden und begleitet werden kann, beispielsweise mit Unterstützung durch eine sozialpädagogische Familienhilfe.
Wichtig ist: Hilfe anzunehmen ist kein Zeichen von Schwäche – sondern Ausdruck von Verantwortung. Je früher belastende Verhaltensmuster erkannt und verstanden werden, desto leichter lassen sie sich beeinflussen – und desto größer ist die Chance, dass sich das Kind wieder gut entwickeln kann.
Was die Forschung sagt – Ein kurzer Überblick über den aktuellen Wissensstand
Oppositionelles Verhalten bei Kindern ist seit vielen Jahren Gegenstand der Forschung. Die Studienlage zeigt: Es handelt sich um ein vielschichtiges Phänomen, das sowohl entwicklungspsychologische als auch neurobiologische, familiäre und soziale Ursachen hat. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass oppositionelles Verhalten nicht monokausal erklärbar ist, sondern aus einem Zusammenspiel von Risikofaktoren und Schutzfaktoren entsteht.
Ein zentraler Befund aus der Entwicklungspsychologie ist, dass Trotzverhalten in bestimmten Altersphasen normal und sogar entwicklungsförderlich ist – insbesondere in der Autonomiephase im Kleinkindalter und in der beginnenden Pubertät. Studien belegen aber auch, dass bei etwa 3–5 % aller Kinder ein oppositionelles Verhalten vorliegt, das den Kriterien einer oppositionellen Störung des Sozialverhaltens (ODD) entspricht und behandlungsbedürftig ist. Diese Störung tritt häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf und zeigt sich oft schon im Vorschulalter.
Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass bei betroffenen Kindern oft eine veränderte Reizverarbeitung und eine geringere Emotionsregulationsfähigkeit vorliegt. Die präfrontale Hirnrinde, die für Impulskontrolle und Planung zuständig ist, zeigt in bildgebenden Verfahren teilweise eine geringere Aktivierung. Auch genetische Einflüsse werden diskutiert: Eine familiäre Häufung oppositioneller oder impulsiver Verhaltensweisen deutet auf vererbbare Anteile hin, wobei das Umfeld maßgeblich beeinflusst, ob und wie stark diese Veranlagungen zum Tragen kommen.
Besonders intensiv beforscht wurden in den letzten Jahren Interventionsstrategien. Die Forschung zeigt klar: Ein rein autoritärer Erziehungsstil ist wenig wirksam – im Gegenteil, er kann Widerstand noch verstärken. Stattdessen haben sich bindungsorientierte, konsequente und ressourcenfokussierte Ansätze bewährt.
Auch die Beteiligung von Schule und Kita ist aus Sicht der Forschung entscheidend, da sich oppositionelles Verhalten oft auch in diesen Kontexten zeigt. Interdisziplinäre Zusammenarbeit – etwa zwischen Eltern, Lehrkräften, Schulsozialarbeit und therapeutischen Fachkräften – erhöht die Chance, dass hilfreiche Strategien auch im Alltag umgesetzt werden können.
Insgesamt lässt sich sagen: Die Forschung nimmt Eltern zunehmend aus der Rolle des „Verursachers“ und betrachtet oppositionelles Verhalten als ein Ergebnis komplexer Wechselwirkungen. Das Ziel liegt nicht in der Schuldzuweisung, sondern in der frühzeitigen Erkennung, passgenauen Unterstützung und langfristigen Entlastung aller Beteiligten.
Fazit – Einordnung, Entlastung, Ausblick
Oppositionelles Verhalten bei Kindern gehört bis zu einem gewissen Grad zur gesunden Entwicklung. Es ist Ausdruck von Selbstbehauptung, Autonomie und der Suche nach Orientierung. Eltern müssen nicht bei jedem „Nein“ oder jedem Wutanfall beunruhigt sein – im Gegenteil: Widerstand ist ein wichtiger Teil des kindlichen Reifungsprozesses.
Gleichzeitig gilt: Wenn das oppositionelle Verhalten dauerhaft, intensiv und in verschiedenen Lebensbereichen auftritt – und das Familienleben, die Schule oder soziale Beziehungen spürbar belastet –, sollte man genauer hinsehen. Denn hinter dem Verhalten kann sich ein tieferliegendes emotionales Ungleichgewicht verbergen, das frühzeitig erkannt und behandelt werden sollte. Eine oppositionelle Störung des Sozialverhaltens (ODD) ist dabei kein Urteil über das Kind oder seine Eltern, sondern eine Beschreibung bestimmter Verhaltensmuster, die sich ändern lassen – mit Zeit, Geduld und gezielter Unterstützung.
Eltern sind in dieser Situation nicht allein. Es gibt wirksame Hilfen – sei es durch Erziehungsberatung, therapeutische Begleitung oder strukturierte Elterntrainings. Auch der Austausch mit anderen Familien kann entlasten und neue Perspektiven eröffnen. Wichtig ist vor allem: Hilfe zu suchen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Verantwortung und Fürsorge.
Oppositionelles Verhalten ist herausfordernd – für Kinder, Eltern und das Umfeld. Aber es ist auch veränderbar. Mit einer liebevollen, klaren Haltung, einem besseren Verständnis für die inneren Nöte hinter dem Verhalten und passender Unterstützung kann ein neuer Umgang entstehen. Ein Umgang, in dem weniger Kampf und mehr Verbindung möglich wird. In dem Kinder lernen, sich mitzuteilen, ohne zu kämpfen – und Eltern wieder Zuversicht in ihre Erziehungsrolle gewinnen.